Geschichten,  Ulrike Nikolai

Sonntagsspaziergang

Ein unspektakulärer Sonntagsspaziergang

An einem Plätscherbach stehend höre ich meinen Gedanken zu:

Schade, dass ich jetzt nicht schreiben kann, was ich gerade empfinde. Ich muss es in mir liegen lassen und darauf hoffen, dass ich es hinterher wieder wachrufen und in die Tasten tippen kann. Dann, wenn ich schreibe. Es ist so viel langsamer, das Schreiben. Es zwingt mich, die erlebten Gefühle zu vertiefen, ihnen ein Relief zu verleihen, auf dem die Lesenden ihre eigenen seelischen Tiefen ausloten können. Es sind Bilder, die ich male aus den Farben meiner Erinnerung. Die Lesenden werden das entstehende Bild je und je verschieden deuten. So wie in der Kunstausstellung zwei Betrachter vor einem Gemälde stehen und völlig unterschiedliche Empfindungen haben können.

Dazu kommen mir noch viele Gedanken, doch bevor sie mein Gehirn zersprengen, gehe ich weiter und fühle. Ich gehe. Gehend. Ich atme. Atmend. Ich schaue. Schauend. Rechts neben mir streckt sich ein Getreidefeld aus, weit in die Ferne. Es fesselt meinen Blick, denn in das reife Getreide führt ein doppelter Weg. Der Weg, den das Landfahrzeug gespurt hat, das für die Existenz dieses Feldes verantwortlich ist.

Wo mag er hinführen? denke ich und setze meinen Fuß darauf. Es sind zwei parallele Spuren, ich wähle ganz spontan die linke. In beiden Spuren ist kein Getreide aufgegangen, sie sind wie durch eine Wand voneinander getrennt. Folge ich der einen, kann ich nicht in die andere wechseln, ohne die breite Mittelwand an einer Stelle zu zerstören. Das will ich nicht. Ich will nur ganz unspektakulär der gewählten Spur folgen. Neugierig mache ich mich auf den unbekannten Weg.

Der Boden ist lehmig. Eine Schnecke schleimt sich von rechts nach links. Ich schreite über sie hinweg. Nimmt sie mich wahr? Oder bin ich für sie nur ein Schatten, der wie eine Wolke die Sonne verdeckt? Wo werde ich landen? Wo endet die Spur?

Wieder bleibt mein Blick an einem Lebewesen hängen. Ein dicker schwarzer Käfer benutzt dieselbe Spur wie ich.

Links zweigt von meiner Spur eine zweite Doppelspur ab. Ein zweiter Weg. Welchem soll ich folgen? Ich entscheide mich für den linken Weg. Mir scheint, ich bin heute linkslastig.

Der neu gewählte Weg ist eng, der Boden nasser als auf dem verlassenen Weg. Wieder eine Schnecke, eine von diesen nackten rotbraunen. Noch eine Schnecke. Der Zusammenhang ist deutlich. Schnecken brauchen Feuchtigkeit, sonst trocknet ihr Schleim aus. Ich sehe im Geiste das Bild eines geteerten Weges in der Sommerhitze, darauf die vielen Schnecken, die die Überquerung nicht geschafft haben und in der Sonne verdorrt sind. Auch die Schnecken machen ihren Sonntagsspaziergang, geschützt vom Schatten, den das Getreide ihnen spendet. Ich gehe absichtslos. Ob sie eine Absicht haben?

Ein Vogel fliegt auf. Er saß in der rechten Spur. Meine Spur wird zu einer neuen Abzweigung geöffnet. Doch auf dieser sind viele Getreidekörner aufgegangen. Auch auf meiner Spur ist der Boden zunehmend bewachsen. Wo gehe ich nun hin?

Da beide sich öffnenden Möglichkeiten gleich dicht bewachsen sind, bleibe ich auf der geradeaus verlaufenden Spur. Beim Streichen durch die Getreidehalme höre ich das Knistern des schon sehr reifen Getreides. Noch sitzen die Körner fest in den Ähren.

Für einen kurzen Moment schickt mich das Netz meines ständig arbeitenden Hirns zurück in die Vergangenheit und lässt mich das längst in die ewigen Jagdgründe gewanderte Lebewesen grüßen. Eine kleine Zecke, die mir ein Kompartmentsyndrom, eine extreme Schwellung meines linken Unterschenkels einbrockte und mich damit ein halbes Jahr lang aus dem dienstlichen Verkehr zog. Ich habe es damals gebraucht. Diese Operation, meine Beinrettung, diese Besinnungspause, die mich mit völlig neuen Lebensinhalten konfrontierte. Mit überlasteten Pflegekräften, mit lustigen Zivildienstleistenden, mit Menschen, die unumkehrbare Körperverletzungen zu überstehen hatten und mich trotzdem noch das Lachen lehrten. Mich, die ich im Gegensatz zu ihnen völlig wieder genesen durfte. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte mich und ich weiß, dass keine Zecke mir heute neue Erfahrungen solcher Art schicken wird. Ich habe sie erlebt und bin – selbst, wenn dies merkwürdig erscheint – der Zecke kurz dankbar. Und allen Zecken, die zu ihrer unendlich großen Familie gehören.

Ich gehe weiter …

der Getreidebewuchs in meiner Spur verliert sich und ich kann ungehemmt vorwärtskommen.

Links neben mir öffnet sich eine tiefe Kuhle in der Getreidefläche. War es ein großes Tier, das sich hier niedergelegt hat? War es eine starke lokale Windböe, dem die Halme auch kollektiv nicht widerstehen konnten? Mir streichelt die Luft sanft über die nackten Arme. Ich bin allein. Ganz allein. Denke ich, denn wie viele Lebewesen sich zugleich an diesem Flecken Erde tummeln, vermag ich mir nicht vorzustellen. Kurz fantasiere ich mich so klein wie sie, um mit ihnen einen kleinen Frühschoppen zelebrieren zu können, mir aus ihrem täglichen Leben Geschichten erzählen zu lassen. Der Kornkäfer und seine Familienprobleme … ich muss lachen. Wie dumm sind wir Menschen eigentlich, alles mit unseren Maßstäben zu betrachten!

Der Boden wird ebener. Der Regen hat das tiefe Profil der Traktorreifen verwaschen.

Ich genieße mein All-Ein-Sein auf diesem von Menschen nicht genutzten Weg. Alle Hundebesitzer bleiben in der Ferne, begehen die geteerten Wege und markieren sie mittels Hund mit warmen stinkenden Haufen, die sie dort – am Feldrand – nicht mit Plastiktüten greifen und dann zuhause im Mülleimer entsorgen. Auch dieser Tretminengefahr bin ich auf meinem Weg nicht ausgesetzt. Wunderbar!

Neugierig gehe ich weiter. Noch immer kann ich nicht erkennen, wo es hingeht. Werde ich auf einer Schleife auf denselben Weg zurückgeführt? Wird die Traktorspur an einer anderen Feldgrenze auf die Straße führen, die an ihren Bäumen aus der Ferne erkennbar ist? Dort fährt ein Auto von links nach rechts. Wo geht’s hin? denke ich. Zum Gottesdienst? Zu Oma zum Frühstück? Wo fahren Menschen am frühen Sonntagmorgen hin?

Ich werde erfasst von einem Gefühl der Grenzenlosigkeit. Grenzenlos erscheint mir das Feld, auf dessen höchstem Punkt ich jetzt angekommen bin. Rundherum senkt sich das Gelände, dessen Rahmen hinter Milliarden von Halmen verschwindet.

Noch immer bleibt mir verborgen, ob mich der Landwirt mit seiner Spur in die Irre führt, mir eine lange Nase macht, wenn ich gleich in einer Sackgasse mit Wendeschleife um 180 Grad gedreht werde.

Vom Wind über meinen Weg gedrückte Halme erschaffen eine Engstelle. Es ist wie im Leben. Ich muss hindurch, dahinter geht es weiter. Der Feldrand nähert sich, die Grenze wird sichtbar, doch scheine ich sie auf diesem Pfad nicht erreichen zu können. Es macht mir nichts, da ich von Anfang an gewillt war, mich leiten zu lassen. Egal, wohin es gehen sollte. Auch das ist wie im Leben. Verlassen wir den von unserer Seele vorgesehenen Weg, hinterlassen wir eine Spur der Zerstörung. Im Getreide. Im Lebensumfeld. Vertrauen soll unser Leitfaden sein. Der nächste Schritt bestimmt die Richtung. Ich denke an eines dieser heiligen Labyrinthe, durch die nur ein Weg führt, dem man folgen muss. Der nicht abgekürzt werden kann. Nur ein Blick von oben, der mir aber nicht erlaubt wird, könnte mir zeigen, wie lang mein Weg noch ist und welche Wendungen noch vor mir liegen. Gibt es einen Mittelpunkt in diesem Getreidelabyrinth? Oder bin der Mittelpunkt nur ich selbst in meiner achtsamen Gangart?

Mein Weg macht einen kleinen Bogen nach links, dann wieder einen kurzen Bogen nach rechts, wo sich ein kleines Wäldchen meinen Sinnen nähert. Mit üppigem Sommergrün, mit feinen zirpenden Tönen, die auf kurze Telefongespräche der Vogelwelt schließen lassen. Ach könnte ich sie abhören!

Endlich erreiche ich in der Traktorspur den Feldrand, gerate dort aber in nasses Gras, in dem ich nicht laufen möchte. Meine Spur fügt sich an dieser Stelle in eine andere wie ein Nebenfluss, der in einen Strom fließt. Nur ein kurzes Stück fließe ich mit, als ich – oje – in der erahnten Schleife lande. Nun, wie sollte es auch anders sein, weiß ich doch, wie sich ein Traktor über ein Feld bewegt. Ganz sicher nicht an einer Seite hinein und an der anderen auf direktem Wege hinaus. Irgendwo muss der Traktor das Feld wieder verlassen haben. Es spielt also keine Rolle, wo ich jetzt bin. Es gibt einen Ausgang!

Es ist spannend. So etwas Unspektakuläres kann so spannend sein! So wenig brauchen wir. Gehende Füße, unsere Sinne … ein Handy für akustische Kurznotizen und ein paar ausgewählte optische Eindrücke.

Nach wenigen Metern erkenne ich an kleinen Zeichen auf dem Boden, die mir bekannt erscheinen, dass ich auf meinen Hinweg zurückgeführt worden bin. Bevor ich das Feld am Ende des Weges wieder verlasse, fällt mir mein Frühstück ein, das gleich auf meinem Tisch landen wird:

Eine Schale mit gequetschtem Getreide und frischen Gartenheidelbeeren! Was für ein unspektakulärer Sonntagsspaziergang, den ich mit frischem Sauerstoff in der Lunge verlasse!

© Ulrike Nikolai