Geschichten,  Silke Brünig

Zauberstab

Ich muss neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Mein Vater war der Meinung, ich wäre nun alt genug für einen richtigen Wanderstab. So einen, wie er ihn hatte. Im Wald sorgsam ausgesucht, von Hand geschnitten und für die Ewigkeit gemacht.

Ein schlanker junger Stock vom Haselstrauch sollte es sein. Unbedingt. „Die wachsen Kerzen gerade, wirst sehen. Wir suchen Dir einen schönen aus.“

Der Haselstrauch. Er ist einer der ersten Sträucher, der zu blühen beginnt. Er kündigt den Frühling an. Die Kätzchen sind männlich und dienen der Bestäubung. Aus den weiblichen Blüten wachsen später die Haselnüsse.

Der Haselstrauch soll eine der wichtigsten Pionierpflanzen in unseren Breiten nach der Eiszeit gewesen sein. Die ersten Wälder breiteten sich aus. Unsere Vorfahren wurden sesshaft. In unseren Breiten auch dank der Hasel.
Die Menschen steckten die Stöcke in die Erde und sorgten so für die Vermehrung. Und sie schliefen auf einem Meer von Nussschalen, die unter den Fellen für Isolierung und Trockenheit sorgten.

Das wusste mein Vater alles nicht. Aber er fand, dass Haselstöcke auch Zauberstäbe sind. Sein Vater – also mein Opa – war nämlich Wünschelrutengänger. Er konnte Wasser aufspüren. Kontakt aufnehmen mit der ätherischen Welt. Mit der Haselroute zaubern. Das hatte meinen Vater sehr beeindruckt.

Unser Waldspaziergang war dann spannend. Mit Akribie suchte mein Vater einen geeigneten Stock aus. Nicht zu dick, nicht zu dünn, lang genug. „Stocknägel müssen drauf passen. Du kommst ja noch ordentlich rum.“ 
Zu Hause bastelte er mir noch einen angenehmen Knauf. Er sagte nicht, woher er das Ding hatte. Eine schwarze Plastikkugel. Hätte der Knauf eines Schalthebels sein können. Von einer großen Baumaschine. Na, sei’s drum.

Die Tage fiel mir dieser schöne Wanderstock wieder in die Hände. Die Hasel blüht. Der Frühling kommt und ich hatte Grund, im Schuppen was zu suchen. Welch wunderbare Erinnerung an Dich, Papa. Den halte ich in Ehren. Der ist für die Ewigkeit.