
Notre-Dame in neuem Licht
Meinen ersten Blick in das Kircheninnere vergesse ich nie mehr. Nach dem Einfädeln in die Reihe der Wartenden und der langsamen Annäherung an die mächtige Eingangstüre war meine Spannung hoch. Dann trat ich ein. Und alles übertraf meine Erwartungen, alles: das Licht, die Höhe, die Weite, die Schönheit. All das wieder aufgebaut in nur fünf Jahren. In dem Moment, in dem ich das Ergebnis zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen habe, erschien mir diese kurze Zeitspanne unmöglicher denn je.
Die Bilder vom Brand im April 2019 waren mir auch in Erinnerung geblieben. Im Inneren lag verkohltes Gebälk auf dem Boden, das teilweise noch diabolisch dampfte, von der offenen Himmelskuppel hingen schwarze Balken herab, die Mauern waren schwarz vom Ruß. Der Altarraum war mit Asche überzogen und mitten in der Zerstörung stand das goldene Kreuz über dem Altar, unversehrt – wie ein trotziges Symbol.
Fünf Jahre später und fünf Monate nach der feierlichen Wiedereröffnung war ich dort. Die vielen Menschen um mich herum waren mit dem Betreten der Kathedrale aus meiner Wahrnehmung verschwunden. Alle schwiegen und schauten nach oben. Die gotischen Spitzbogen zogen unsere Blicke unweigerlich auf sich. Die Steinkunst der Gotik zeigte ihre Kraft, Zeit und Gedanken auszublenden. Und dank der magischen, indirekten Beleuchtung wurden selbst feine Details bis in die Höhe der Gewölbe erkennbar. Wie ich später nachlas, erhebt sich das Mittelschiff 33 Meter in die Höhe – es wirkt viel höher -, es misst 130 Meter in der Länge – und scheint endlos.
Als mein staunender Blick ins erste Seitenschiff abwanderte, dann in das zweite Seitenschiff, und schließlich bei den äußeren Kapellen landete, weil er alles erfassen wollte – so kehrt er doch wie magisch immer wieder zur Decke des Mittelschiffes zurück. Die Kirche ist breiter als hoch – und trotzdem prägt die vertikale Dimension den Raum.
Der Besucherstrom bewegte sich wie auf einem Laufband von den linken Seitenschiffen bis nach vorne ins Halbdunkel hinter den Altarraum. Dort zog ein großes, goldenes Objekt alle Aufmerksamkeit auf sich: Es war der neue Reliquienschrein für die Dornenkrone Christi, die in Notre-Dame aufbewahrt wird. Im Brand konnte sie durch eine Menschenkette aus Feuerwehrleuten und Helfern gerettet werden. Das moderne goldene Kunstwerk wurde eigens geschaffen, um die bedeutende Reliquie angemessen zu präsentieren.
Der langsame Besucherstrom zog auf der rechten Kirchenseite in Richtung Zentrum weiter. Die berühmten Rosettenfenster waren hier zu bestaunen. Auch sie waren wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Sie stammen aus der Bauzeit im 13. Jahrhundert und zeigen Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. Das bunte Licht, das durch die Fenster fällt, galt von jeher als göttliches Licht.
Schweigend ging ich weiter, versunken und immer wieder staunend über die kurze Zeitspanne der Restaurierung. Mit jedem langsamen Schritt bewunderte ich mehr die Kunst der Steinmetze, der Bildrestauratoren und Kirchenmaler, das meisterliche Handwerk der Zimmerleute, Dachdecker und Steinrestauratoren – und ich begann zu ahnen, wieviel Sachverstand von Kunsthistorikern, Architekten und Ingenieuren in dieses Werk eingeflossen ist.
Besonders beeindruckte mich immer wieder die Lichtgestaltung. Ich stellte mir die Situation vor, in der die Lichtdesigner ihr eigenes Konzept das erste Mal erlebt haben. Wahrscheinlich saßen sie unten im Halbdunkel des großen Kirchenschiffes, waren angespannt. Dann erwachte ihr Werk zum Leben. Vielleicht wurde geschwiegen, vielleicht flossen Tränen, vielleicht wurde nach einiger Zeit frenetisch applaudiert. Dieses Licht bringt das Gesamtwerk zum Leuchten und mit ihm die gemeinsame Leistung aller, die daran mitgewirkt haben. Zweitausend Beteiligte wurden gewürdigt, indem ihre Namen in einer Kapsel im Inneren des vergoldeten Hahns auf der neuen Mittelturmspitze aufbewahrt werden.
Schon näherte ich mich dem Ausgang. Direkt davor wurden die Besucher
an einer langen Theke mit touristischen Souvenirartikeln vorbeigelenkt. Mir fiel die biblische Szene ein, in der Jesus die Händler aus dem Tempel vertrieben hatte, und ich wünschte mir, er wäre hier gewesen. Mit gemischten Gefühlen drehte ich mich noch einmal bewusst um und mein Blick fiel auf das schlichte, goldene Kreuz im Altarraum – für mich ein Symbol der Ausrichtung auf das Wesentliche.
Eine Stunde verbrachte ich in der Kirche. Ich werde irgendwann in einer frühen Morgenstunde wiederkommen – wenn der Raum noch leer ist und es so scheint, als wollte die Kirche selbst zu sprechen beginnen.
Fotos vom Inneren der Kathedrale finden Sie in dem vertonten YouTube-Beitrag auf unserem Geschichtenkanal schreibverbunden : Rundgang durch die renovierte Kathedrale von Notre-Dame
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