Geschichten,  Ulrike Nikolai

Die Sonnenblume

Die Sonnenblume

Ich liebe Sonnenblumen. Sie sind die Königinnen des Spätsommers und leuchten als Echo des Sommersonnenlichts bis in den Herbst hinein. Wenn sie langsam ihre Köpfe neigen, werden sie besucht von Vögeln, die die Nachfolger der viel kleineren Flugwesen, der Insekten, sind. Nicht immer gelingt es, diese schönen Blumen im Garten groß zu bekommen. Sie müssen die Schneckenschwelle überwinden. Das ist die Zeit, in der ihre Stängel noch nicht haarig genug sind, um die unermüdlichen Fresser abzuwehren. Daher ist es ratsam, sie in Töpfen vorzuziehen und erst dann nach draußen zu setzen, wenn sie bereits eine stattliche Größe haben.

Um den Vögeln das Winterfutter zu reservieren, kann man in der Zeit, wenn die Blüte eh nicht mehr schön anzusehen ist, ein Netz darüberziehen.

Besonders faszinierend ist die geometrische Anordnung ihrer Körnerspiralen, die den strengen Regeln der Natur folgt. Es gibt keine Sonnenblume, ja keinen einzigen Korbblütler, in dessen Samenstand diese perfekte Anordnung der Samen nicht anzutreffen wäre. Die sich konsequent wiederholenden Proportionen sind zahlenmäßig darstellbar. Die Fibonacci-Reihe ist deren Grundlage, die Summenreihe, in der jede Zahl die Summe der zwei vorausgegangenen ist:

1, 2 (+1=), 3 (+2=), 5 (+3=), 8 (+5=), 13, 21, 34, 55, 89, 144, 233, 377 …

Entdeckt hat diese Folge Leonardo von Pisa (genannt Fibonacci), der zwischen 1170 und 1180 geboren wurde.

Nach dem Gesetz dieser Zahlenreihe entwickelt sich die in der Spirale zum Ausdruck kommende Ordnung, die man als Wunder der Schöpfung, als kosmische Harmonie bezeichnen kann. Zwei entgegengesetzte spiralige Muster bilden eine Grundstruktur in der Natur, die überall gültig ist – das Yin und Yang der fernöstlichen Philosophie. Wir finden sie in Sonne und Mond, in männlich/weiblich, in positiver und negativer Teilchenladung, Sommer und Winter, Ebbe und Flut.

Wir alle erkennen sie auf den ersten Blick, denn sie erscheint uns als harmonisch, geordnet, schön.

Der Schönheit dieser Majestät des Gartens habe ich ein Gedicht gewidmet:

Sonnenblume – Herbstgesicht –

leuchtest froh, wenn and’re welken.

Längst beachtet man sie nicht,

ob Narzissen, Tulpen, Nelken.

Du hast der Sonne Licht getankt

und lachst – ein Korb voll guter Gaben.

Bald im Winter dir dann dankt

der Vogel, der sich wird dran laben.

Erst, wenn du dich hast verschenkt,

sich dein Kopf zur Erde senkt.

(geschrieben am 19.5.1995)

© Ulrike Nikolai