Meine erste Lesung
Ulrike Nikolai

Meine erste Lesung

Monatsgeschichte für den November 2023 von Ulrike Nikolai aus Blomberg

Es ergab sich – einfach so. Ich hatte mich nicht darum bemühen müssen, sondern war darum gebeten worden.

„Hast du nicht Lust, mal bei uns vorzulesen?“, hatte mich Monika, Mitglied des Vorstands eines Heimats- und Geschichtsvereins, gefragt. Mein Herz war begeistert. Endlich bekam ich eine Gelegenheit, meiner Leidenschaft öffentlich Ausdruck zu geben.

Bereits im Jahr 2004 ist von der Stiftung Lesen, von der Deutsche Bahn Stiftung und von der Wochenzeitung DIE ZEIT ein bundesweit einheitlicher Tag als Vorlesetag festgelegt worden, um das Vorlesen als wichtige kulturelle Praxis zu fördern und das Interesse von Kindern und Erwachsenen für Bücher und Geschichten zu wecken. In diesem Jahr (2023) fiel der Vorlesetag auf den 17. November.

„Willst du diese Gelegenheit nicht für eine Lesung bei uns nutzen?“, hatte mich also Monika aus Anlass dieses Tages gefragt.

Ich habe „ja“ gesagt. Ganz spontan. Meine Seele hat sich angesprochen gefühlt. Ich habe noch nie eine öffentliche Lesung abgehalten. Ach … abgehalten. Nein, das klingt so wie ein Job, den man machen muss. Zelebriert, fällt mir ein. Zelebrieren, ja, das ist ein Begriff, der mir gefällt. Ich wollte eine Lesung zelebrieren. Sie sollte wie ein Feier sein.

Ich hatte inzwischen bereits vier eigene Bücher geschrieben und an einer Anthologie als eine von fünf Autorinnen schreibend teilgenommen.

Ich erzähle vom Ablauf der Lesung – insbesondere von der Verbindung, die sich zwischen Publikum und mir aufbaute:

Das Publikum saß in einem leicht abgedunkelten Raum auf Stühlen, die auf meinen Tisch hin ausgerichtet waren. Ich selbst bekam einen großflächigen Tisch zur Verfügung gestellt, auf dem eine Leselampe lediglich meinen Text beleuchtete, neben meiner Textmappe stand etwas zu trinken, dazu meine Uhr als grobe Leitlinie für die Einteilung meiner Textangebote. Meine Texte hatte ich sorgfältig ausgewählt, sodass ich in ein Lesepotenzial greifen konnte, das ich den Reaktionen des Publikums anpassen wollte.

Bereits eine Viertelstunde vor Beginn der Lesung waren einige ZuhörerInnen gekommen, setzten sich und lächelten mir erwartungsvoll entgegen. Ich lächelte wortlos zurück. Das Licht im Publikumsbereich empfand ich als zu hell, wollte es aber nicht ganz ausschalten. „Man kann das dimmen“, erklärte der Vorsitzende und griff zu einem Schalter und dimmte das Licht nur so weit herunter, dass man Stühle und Menschen noch gut sehen konnte. Ich wollte ja sehen, wie sich die Brücke zwischen den ZuhörerInnen und mir aufbauen würde. Die Reihen füllten sich. Mäßig zwar, aber ich wusste, dass es gut werden würde, auch wenn das Publikum spärlich bliebe.

Es war 18 Uhr. Der Vorsitzende des Heimatvereins stellte sich mir zur Seite. Wir hatten es gar nicht abgesprochen, doch begann er einfach zu reden. Wunderbar, dachte ich, er sagt vorweg ein paar einleitende Worte. Das gibt dem Ganzen noch mehr Ernsthaftigkeit. So erklärte er den Anlass der Lesung, unterstrich die Wichtigkeit des Vorlesens – gerade in der heutigen Zeit. 1.076.472 Personen lasen einer Internetzählung zufolge in diesem Jahr 2023 vor und hörten zu. Und ich durfte eine der Teilnehmerinnen sein.

Ein erster Applaus galt dem Vorsitzenden und nun war die Bühne frei für mich. So saß ich nun quasi im Rampenlicht vor etwa zwölf erwachsenen Personen, die für mich noch gut sichtbar waren.

Ich hatte speziell für den Beginn eine kleine Geschichte geschrieben, in der eine Autorin aus ihrem eigenen Buch vor einer Frühstücksrunde vorträgt und ständig durch neu Eintretende, durch Stühle- und Geschirrgeklapper und ähnliche Störungen unterbrochen wird. Mit dieser Geschichte versetzte ich die Zuhörenden in die Lage einer Autorin, die ihr Publikum nicht erreicht und erklärte damit auf amüsante Weise, dass ich meine Lesung deshalb anders organisiert hatte. Zugleich konnte ich auf die Pausen hinweisen, die ich an geeigneter Stelle einlegen würde.

Der zweite Text befasste sich mit meinen eigenen Schreibanfängen. Ich erzählte von mir als Sechsjähriger, die gerade erst den Umgang mit Buchstaben erlernt und irrsinnigen Spaß daran hatte, daraus allerhand Verrücktes zu kreieren.  Diese ersten Schreibversuche hatte ich in eine Geschichte eingebettet, die das Publikum mitfühlen ließ und es offensichtlich amüsierte. Die Brücke begann, sich über den Abgrund zwischen Sitzreihen und meinem Lesetisch zu spannen.

Noch wollte ich die Zuhörenden nicht an das ernste Kernthema der Lesung heranführen, wählte noch eine weitere lustige Geschichte aus meiner eigenen Dienstzeit. Diese handelte von dem kleinen Melvin, der im Schulgottesdienst, der ihn nicht die Bohne interessiert, allerhand Vergnügliches von sich gibt. Kindermund tut Wahrheit kund.

Eine kleine Pause, in der das Publikum sich etwas zu trinken holen konnte, wurde eingelegt. Die Gläser blieben in der Hand, was nicht störte, da es keine klappernden Geräusche erzeugte.

Weiter ging es … das eigentliche Novemberthema wartete auf seine Eröffnung: Das Leben und Sterben von Müttern, der Frieden der sich danach auf ganz individuelle Weise bei den Töchtern einstellte. Alles geschrieben aus der Sicht der Töchter. AM ENDE FRIEDEN heißt die Anthologie, an der auch ich beteiligt war.

Die vorher eher fröhliche Stimmung, die sich auf der inzwischen gespannten Brücke entwickelt hatte, schlug schnell um. Die Gesichter ließen eine hohe Erwartungshaltung erkennen, nachdem ich den Zuhörenden ein Seil des Mitfühlens zugeworfen hatte: „Wer von Ihnen hat nicht schon mal erlebt, wie die Mutter … aus Sicht der Tochter … oder auch aus Sicht der Mutter … usw.?“

Die Atmosphäre war schwanger … die Spannung deutlich erkennbar an einem Nicken in meine Richtung, einem bedeutungsschweren Blick in den eigenen Schoß, hier wurden die Hände zusammengelegt und zwischen die eigenen Beine gesteckt, dort legte jemand eine Hand vor den Mund und richtete einen gedankenvollen Blick zur Decke. Welche Bilder mochten in den Köpfen der vor mir sitzenden Menschen aufsteigen? Menschen, die alle bereits umfangreiche Lebenserfahrungen in sich trugen? Ihr Alter unterschied sich nicht wesentlich von meinem. Auch, wenn ich ihre Bilder nicht erzählt bekam, spürte ich Betroffenheit – bereits vor meinem Vortrag der Leseproben.

Diese Betroffenheit echote mir zurück, dass die Leseproben nun auf fruchtbaren Boden fallen würden. Ich erklärte das Zustandekommen der Anthologie und begann dann gleich mit dem ersten Text.

Die dramatische Diskrepanz, die sich zwischen Mutter und Tochter in einem Gespräch verminderte, berührte. Es war still im Raum. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Das nun entstehende unsichtbare Netz der Verständigung begann, sich zu entwickeln. Wie lang kann es dauern, bis eine lebenslang bestehende Mauer ihre ersten Risse bekommt, um dann nach und nach zu bröckeln! Das mag der eine Zuhörer, die andere Zuhörerin gedacht haben.

Die Demenz des Vaters, die die zweite Autorin aus Sicht der Mutter darstellte, schien wiederum andere Zuhörende zu berühren. Ich beobachtete mehrere Personen, die eindeutig Zeichen des Wiedererkennens beschriebener Momente äußerten. Mal mit einem zustimmenden Nicken, ein anderes Mal mit einem traurigen Herabsenken des Kopfes oder einem leichten Kopfschütteln. Es war der längste Text, er forderte die längste Zeit der Aufmerksamkeit, doch ließ sie nicht für einen Moment nach.

Mein eigener Text von der Rose, die ich ansprach wie meine eigene Mutter, berührte so sehr, dass sich eine Zuhörerin zum Schluss die Nase schnäuzte. Sie schien nicht erkältet zu sein, denn es geschah nur einmal. Dieselbe Zuhörerin kam auch direkt nach der Lesung zu mir und sagte mir, sie habe meine Stimme sehr genossen. Sie sei so weich, so sanft und angenehm. Sie habe sehr gern zugehört. In dem Moment beschloss ich, keinen teuren Sprechlehrgang zu machen. „Nein, das brauchen Sie nicht“, sagte die Zuhörerin lachend, als ich ihr sagte, dass ich es erwogen hätte.

Im nächsten Text wurde die Todesstunde der Mutter beschrieben und ich spürte das innere Mitgehen, aber auch die Spannung, die zum Ende blieb, weil ja der eigentliche Schwellenübergang in dem Text noch ausstand. Ich nahm dies wahr an der sich langsam aufrichtenden Körperhaltung, die dann nicht zur befreienden Erlösung führte. Vielleicht eine Spannung, die zwei Personen im Publikum zu der Entscheidung führte, sich das Buch zuzulegen, um es dann komplett zu lesen.

Von einer Käuferin der Anthologie erfuhr ich nach der Lesung, dass sie ihre demente Mutter, die schon verstorben sei, acht Jahre lang gepflegt habe. Ihre Mimik ließ erkennen, wie schwer das für sie gewesen sein muss.

Der letzte Text, in dem es um das Setzen von Prioritäten ging, wenn das Leben Forderungen aus mehreren Richtungen stellt, bewegte besonders an der Stelle, an der es um die erste Umarmung zwischen Mutter und Tochter ging. Ein Staunen in den Augen … unvorstellbar, wieviel Zeit vergehen muss, um eine Umarmung zu erleben. Zwischen zwei Menschen, die sich doch eigentlich näher nicht sein können. Das Spinnenhafte setzte die Aufmerksamkeit nochmal eine Stufe höher und ich hatte das Gefühl, es werde etwas beschrieben, was viele zu kennen schienen. Ich selbst habe auch oft von diesem Spinnennetz geschrieben, in dem ich mich in den letzten Lebensjahren meiner Mutter gefangen fühlte.

An dieser Stelle bedurfte es auf beiden Seiten dringend einer Pause. Das Gehörte und die beobachteten Reaktionen mussten erst einmal sacken. Und ich entschied für mich, nach der Pause noch einen fröhlichen Ausklang anschließen zu lassen. Als Grenze hatte ich mir die Zeitspanne von zwei Stunden gesetzt.

Ich las noch zwei Texte aus meinen Büchlein vor, die geeignet waren, die Stimmung wieder etwas aufzulockern und beendete die Lesung nach 105 Minuten. Der Applaus war ein schöner Ausgleich, auch der Kauf von fünf meiner ausgelegten Bücher. Aber der größte Gewinn war für mich diese gespürte Brücke zwischen den Zuhörenden und mir. Es war ein echtes und ehrliches Win-Win!

Im Anschluss durfte ich aus der Hand des Vorsitzenden – neben Monika, die an diesem Tag Kindern vorgelesen hatte – einen wunderschönen bunten Blumenstrauß und eine Vorleseurkunde entgegennehmen.

Und wenn mich wieder jemand fragt, ob ich nicht eine Lesung machen möchte … werde ich freudig „ja“ sagen! Ich freue mich auf immer neue Brücken. Auf Verbindungen, die beleben, die dem Leben einen schönen Sinn verleihen.

© Ulrike Nikolai 21.11.2023